Harry, Hermann, und der Wolf
Der Roman erschien 1927. Das ohne Gattungsbezeichnung
erschienene Werk, das den Weltruf des Autors begründete, gehört zu
wenigen bis heute gelesenen Texten aus dem Umkreis jener kultur- und
zivilisationskritischen Strömung, die, meist mehr oder weniger
vordergründig auf die Philosophie Friedrich Nietzsches zurückgreifend,
als Reflex auf die Erscheinungen der modernen Massen- und
Industriegesellschaft die zwanziger Jahre durchzieht.
Noch die europäische
wie die amerikanische Jugendbewegung der sechziger Jahre fand im
"Steppenwolf" und in seiner Stilisierung des einsamen und verkannten
Künstler-Ichs Identifikationsmuster für ihren Protest gegen
das Establishment.
Trotz seiner scheinbar chaotischen Struktur mit einer mehrfach wechselnden
Erzählperspektive, einem eingeschobenen Essay und der verwirrenden
Visionenfolge des "Magischen Theaters", mit dem der Roman schließt,
ist das Werk streng nach musischen Gesetzmäßigkeiten komponiert; Hesse selbst
hat auf die Sonatenform der Dichtung aufmerksam gemacht, die »um
das Intermezzo des Traktats herum so streng und straff ... wie eine Sonate«
gebaut ist. Das einleitende »Vorwort des Herausgebers« -, eines fiktiven
Editors, führt in die neurotische Persönlichkeitsstruktur des späteren
Ich-Erzählers Harry Haller ein und fungiert als Exposition des ersten
"Sonatenhauptsatzes". Die anschließende erste Sequenz von "Harry Hallers
Aufzeichnungen" konkretisiert unter dem Motto "Nur für Verrückte"
das Leitmotiv der inneren Zerrissenheit namentlich anhand von Hallers
ambivalentem Verhältnis zum Bürgertum und entspricht so der
Durchführung in der Sonatenform. Der Essay "Tractat vom Steppenwolf",
der Haller von einem ominösen Bauchladenverkäufer zugespielt wird, dient,
gleichsam als "Intermezzo", als Verbindungsglied der beiden Romanteile:
Indem er die wesentlichen Motive nochmals aufnimmt, fungiert er als
Reprise des Vorangegangenen, entwirft gleichzeitig aber jene
Lösungsperspektiven, die in der zweiten Sequenz der Aufzeichnungen
weiterverfolgt werden.
Harry Haller, ein vereinsamter Mann von fünfzig Jahren, der seine
Existenz selbst in die Chiffre des "Steppenwolfs" kleidet, befindet
sich im Zustand völliger Entfremdung von seiner kleinbürgerlichen Umwelt,
zu der er sich dennoch mit einer fast kindlichen Sehnsucht wieder hingezogen
fühlt. Innerlich und äußerlich isoliert und verbittert, hat er sich in
die Studierstube zurückgezogen, wo er innige Zwiesprache mit den Heroen des
Geistes, Goethe vor altem, pflegt. Die Nächte verbringt er in billigen
Kneipen; Haller hat, "im Sinne mancher Aussprüche Nietzsches, in sich
eine unbegrenzte furchtbare Leidensfähigkeit herangebildet". So wenig er sich
allerdings mit der oberflächlich-bürgerlichen Umwelt zu arrangieren
vermag, so wenig kann er sich mit sich selbst, wie der "Tractat vom
Steppenwolf" diagnostiziert, als Persönlichkeit zerfallen, was der Text
mit Hilfe der Metaphern von Wolf und Mensch zu veranschaulichen sucht:
"Bei unserem Steppenwolf nun war es so, daß er in seinem Gefühl ...
bald als Wolf, bald als Mensch lebte, wie es bei allen Mischwesen
der Fall ist, daß aber, wenn er Wolf war, der Mensch in ihm stets
zuschauend, urteilend und richtend auf der Lauer lag - und in Zeiten,
wo er Mensch war, tat der Wolf ebenso..." Der "Tractat" entlarvt diese
Selbstdeutung als vereinfachenden Dualismus und insistiert auf der
unendlichen psychischen Mannigfaltigkeit jedes Menschen: "Harry
besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden.
Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) ... zwischen tausenden,
zwischen unzählbaren Polpaaren." Als Lösungsvision für Hallers inneren
Konflikt entwirft der Tractat zwei alternativ gedachte Möglichkeiten: Den
Durchbruch zu dieser eigentlichen inneren Mannigfaltigkeit und damit
die Nachfolge der hier noch als tragische Gestalten begriffenen
"Unsterblichen" der geistigen Welt oder aber die "Vernuftehe" mit dem
Bürgerlichen über den Humor.
In der zweiten Aufzeichnungssequenz Hallers - der Durchführung des
zweiten "Sonatenhauptsatzes" - werden die beiden Entwürfe leitmotivisch
weiterverfolgt und charakteristisch abgewandelt. Der Ich-Erzähler begegnet
einer Reihe von Figuren, die allesamt im Sinne der Psychologie als
archetypische Repräsentanten für nicht realisierten Dispositionen von
Hallers kollektivem Unbewußten fungieren und die ihm helfen sollen,
seine vom "Tractat" postulierte innere Mannigfaltigkeit zu entdecken;
Hesse verkehrte damals wie bereits während der Niederschrift des
"Demian" häufig mit dem Jung-Schüler Dr. J. B. Lang. Auf dem Höhepunkt
seiner Verzweiflung und nahe am Selbstmord begegnet Haller der Kurtisane
Hermine - bereits ihr Name verweist auf ihre Bedeutung als Jungsche
»Anima« - und wird von ihr in den Lebensgenuß der Großstadt-Halbwelt
eingeführt. Sie umsorgt Haller mütterlich, lehrt ihn die Modetänze
der Zeit und macht ihn mit ihren Freunden Pablo und Maria bekannt.
Aber obgleich Haller mit der sinnlichen Maria eine beglückende
erotische Beziehung erfährt und mit der Zeit auch die geistig-psychische
Differenziertheit des vermeintlich dümmlichen Lebemannes Pablo immer
mehr entdeckt, gelingt ihm keine wirkliche Überwindung seines
Intellektualismus, seiner Lebensuntüchtigkeit und seiner
dualistisch-neurotischen Selbstinterpretation. Aus diesem
Grunde müssen die Lösungsvisionen des Tractats in der kompositorisch
als Reprise fungierenden Schlußsequenz des Romans auf eine rituelle
Weise durchgesetzt werden. Der Maskenball dient als Initiationsritus:
In einer motivischen Engführung begegnet Haller noch einmal allen
wichtigen Nebenfiguren und erlebt erstmals das Faszinosum vom
»Untergang der Person in der Menge«.
Nach der Einnahme eines Halluzinogens und dem symbolischen Lachen
über seine bisherige dualistische Selbsinterpretation ist er schließlich
genügend vorbereiten um in Pablos "Magischem Theater" das Auseinanderfallen
seines Ichs in die "wahre" psychische Mannigfaltigkeit zu erleben. Es folgen
eine Reihe von Assoziationskomplexen, die allesamt bestimmte Dispositionen seiner
unbewußten Kollektivpsyche veranschaulichen. Nachdem er in den vorbeiflutenden
Bildern - "Hochjagd auf Automobile; Anleitung zum Aufbau der Persönlichkeit;
Wunder der Steppenwolfdressur; Alle Mädchen sind dein" - nacheinander mit
dem potentiellen Mörder, dem Ideal einer spielerisch realisierten inneren
Vielheit, seiner neurotischen Grunddisposition und seinem unausgelebten Sexualtrieb
konfrontiert worden ist, wünscht Haller die Eroberung Hermines und zerstört mit
diesem egozentrischen Wunsch die erwünschte freie Entfaltung seiner inneren Bilder.
Mozart als Repräsentant der »Unsterblichen« taucht auf und versucht vergeblich,
Haller auf seinen Irrtum hinzuweisen. Anstatt wie von Pablo in seiner
Einführung ausdrücklich verlangt - das »Magische Theater« als eine
"Schule des Humors" zu begreifen und sich entspannt dem freien Fluten der inneren
Bilder hinzugeben, halluziniert Haller Pablo und Hermine beim Beischlaf und
tötet seine Traumgeliebte mit einem Messer. Noch einmal erscheint Mozart und
klärt Haller in einem erkenntnistheoretischen Vortrag über die ewige Differenz von
Ideal und Wirklichkeit auf: "Sie sollen leben, und sie sollen das Lachen
lernen. Sie sollen die verfluchte Radiomusik des Lebens anhören lernen,
sollen den Geist hinter ihr verehren, sollen über dem Klimbim in ihr lachen
lernen. Fertig, mehr wird nicht von ihnen verlangt".- Jetzt endlich versteht Haller
das Geheimnis der "Unsterblichen", das nicht nur Mozart, sondern auch Goethe in
einem seiner Träume verkörperte und weiches Pablo auf eine solch unscheinbare
Weise vorlebt: Die Begründung eines humoristisch-gelassenen Verhältnisses
zum unauflöslichen Ungenügen der empirischen Welt und des eigenen Ich, sowie
die spielerische Realisierung der psychischen Mannigfaltigkeit der Persönlichkeit.
Humor und die Nachfolge der "Unsterblichen" - so begreift Haller jetzt - sind
nicht, wie im Tractat dargestellt, strenge Alternativen und implizieren weder eine
»Vernunftehe« mit der Bürgersphäre noch ein tragisches Scheitern; die
Unsterblichen sind humorige Naturen und haben bei aller psychischen
Differenziertheit eine versöhnliches Verhältnis zur Endlichkeit von Ich und Welt.
Mit dem Ausblick auf diese Lösungsvision für die Leiden des Ich-Erzählers endet
der Roman: "Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich
das Lachen lernen. Pablo wartete auf mich, Mozart wartete auf mich."
(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München.)
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